Modernisierung und Monarchie

Abdul Rahman wird allgemein als der Gründer des modernen Afghanistans angesehen. Unter seiner Herrschaft legten Briten und Russen die Grenzen des modernen Afghanistans, so wie sie heute noch bestehen, fest. 1893 wurde mit der Durand-Linie eine Demarkationslinie zwischen Afghanistan und Britisch-Indien geschaffen, welche die Verantwortungen über das jeweilige Gebiet festlegte. Sie war nie als internationale Grenzlinie gedacht und wird heute von afghanischer Seite auch immer noch nicht als offizielle Grenze anerkannt. Die Durand-Linie, heute die Grenze zu Pakistan, geht mitten durch das Stammesgebiet der Paschtunen. Für die nomadischen Bewohner dieser Gebiete bedeutete die Linie eine Absurdität. Abdul Rahman prophezeite den Briten, dass die Stämme in Friedenszeiten zwar zu befrieden seien, im Konfliktfall jedoch nicht.

Innerhalb der geschaffenen Grenzen des Landes gelang es Abdul Rahman, genannt der eiserne Emir, mit seiner straff organisierten Armee die Macht der Stammeshäuptlinge einzuschränken und die Kontrolle über die zahlreichen ethno-linguistischen Gruppen im Landesinneren auszubauen. Er hinterließ ein Land mit organisierter Zentralverwaltung. Er war dabei so erfolgreich, dass sein Sohn und designierter Nachfolger, nach seinem Tod, ohne die sonst üblichen Thronfolgekämpfe die Herrschaft antreten konnte.

Die Einführung moderner europäischer Technologien, die mit Abdul Rhaman bereits begonnen hatte, wurde unter Habibullah weiter fortgeführt. Westlicher Lebensstil und neue Ideen fanden Einzug in das afghanische Königshaus und die afghanische Oberschicht. Viele der unter seinem Vater Verbannten kehrten zurück, darunter Mahmud Tarsi, ein aufgeklärter Denker, der als Schriftsteller und Zeitungsherausgeber für Afghanistan zukunftsweisend war.

Trotz innenpolitischen Drucks entschied sich Habibullah dagegen auf Seiten der Mittelmächte (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien, Türkei) in den Ersten Weltkrieg einzutreten.

Am 20. Februar 1919 wurde ein tödliches Attentat auf Habibullah verübt.

Habibullahs Sohn, Amanullah, trat die Nachfolge seines Vaters an. Er stand im Mittelpunkt eines Kreises jüngerer, fortschrittlich und national denkender Afghanen und war entschlossen, sein Land der Einflusssphäre der Briten völlig zu entziehen. Im Mai 1919 erklärte er Großbritannien den Krieg (Dritter Anglo-afghanischer Krieg) der mit dem drei Monate später (8. August 1919) abgeschlossenen Vertrag von Rawalpindi endete. Mit diesem Abkommen erkannte Großbritannien Afghanistan als einen souveränen und unabhängigen Staat an.

Nach dem Vorbild der Türkei und des Irans suchte der westliche erzogene Amanullah, Afghanistan im Sinne der europäischen Zivilisation zu modernisieren. Er führte eine Reihe von politischen, sozialen und religiösen Reformen durch. Die afghanische Verfassung (Trennung von Religion und Staat, Einsetzung eines Parlaments) wurde 1923 verabschiedet. Weiterhin schuf Amanullah einen Verwaltungsapparat, führte die allgemeine Schulpflicht für Kinder beiderlei Geschlechts ein und ordnete andere umfassende Maßnahmen zur Modernisierung des Staates an (u.a. Verbot der Vielehe, Abschaffung des Schleiers, Verbot der Sklaverei). Die forcierten Reformbemühungen stießen jedoch insbesondere in religiös-konservativen Kreisen und unter Stammesführern auf erbitterten Widerstand. Als im Anschluss einer Europa-Reise des afghanischen Königspaares (Ende 1927) Bilder im ganzen Lande verbreitet wurden, die den König trinkend und seine Frau ohne Schleier zeigten, kam es zum allgemeinen Aufruhr, der 1929 in einem Aufstand gipfelte und am 14. Januar zur Abdankung Amanullahs führte. Er ging ins Exil und starb 1960 in Zürich.

1929 gelang es Nadir Schah, einem Onkel Amanullahs, mit der Unterstützung von mehreren hundert Stammesangehörigen, den „Räuberkönig“ und tadschikischen Volkshelden Baccheh Saqow (Bacha Saqqao) zu vertreiben, der sich nach dem Aufstand zwischenzeitlich zum Emir ernannt hatte. Nadir Schah wurde daraufhin von einer Stammesversammlung zum König ernannt. Unter seiner Regentschaft wurde Afghanistan mit einer neuen Verfassung (1931) zu einer konstitutionellen Monarchie. Im drauf folgenden Jahr leitete er ein wirtschaftliches Reformprogramm ein.

Mohammed Sahir Schah

Am 8. November 1933 wurde Nadir Schah ermordet und sein 19 Jahre alter Sohn Mohammed Sahir Schah bestieg den Thron. Sahir Schah hatte aber in der Politik zunächst nichts zu sagen. Von 1933 bis 1946 regierte sein Onkel Muhammad Haschim als Premierminister. Nach ihm übernahm Schah Mahmud, ein anderer Onkel, dieses Amt.

Die ersten zwanzig Jahre der Regentschaft unter Sahir Schah waren von einer Politik der nationalen Konsolidierung charakterisiert. Die von Nadir Schah begonnnen Reformen wurden fortgeführt und auswärtige Beziehungen ausgebaut. Insbesondere zu Deutschland, Italien und Japan stellte Afghanistan enge Handelsbeziehungen her. Zu Beginn des 2. Weltkrieges 1939 erklärte Sahir Schah allerdings die Neutralität des Landes.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Paschtunistan-Frage an Bedeutung. Anlass war die Eingliederung der weitestgehend von Paschtunen bewohnten Stammesgebiete der North-West Frontier Province in den 1947 mit der Unabhängigkeit Indiens entstandenen Staat Pakistan. Afghanistan strebte die Rückgabe der einst zum Lande gehörenden Gebiete an und forderte vergeblich eine Volksabstimmung zur Frage der Selbstbestimmung in den Stammesgebieten. Als Vergeltungsmaßnahme stimmte Afghanistan, seit November 1946 Mitglied der Vereinten Nationen, gegen die Aufnahme Pakistans in die Weltorganisation. Auch in den folgenden Jahren blieb das Verhältnis beider Länder angespannt. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen pakistanischen Streitkräften und Stammesangehörigen der Paschtunen. 1949 riefen die Paschtunen, mit Billigung der afghanischen Regierung, eine Bewegung zur Gründung eines unabhängigen Staates ins Leben.

1953 löste Mohammed Daud, ein Cousin König Sahirs, den seit 1946 amtierenden Premierminister Schah Mahmud ab. Mohammed Daud verfolgte einen härteren Kurs in der Paschtunistan-Frage; gleichzeitig wandte er sich verstärkt der Sowjetunion zu, um dem Druck Pakistans in dieser Frage auszuweichen. Chruschtschow und Bulganin reisten 1955 nach Kabul, versprachen einen großzügigen Kredit und sagten ihre Unterstützung für einen Staat Paschtunistan zu. Auch das Freundschafts- und Nichtangriffsabkommen von 1931 wurde erneuert. Die Sowjetunion wurde zum größten und wichtigsten Partner Afghanistans.

Daud und Sahir Schah verstanden es jedoch, aus der strategischen Lage Afghanistans wirtschaftliches Kapital zu schlagen, ohne dafür politische Zugeständnisse zu machen. Indem sie sich während des Kalten Krieges keinem der beiden Blöcke anschlossen, bekamen sie neben der russischen Unterstützung auch massiv Mittel seitens der USA und anderer westlicher Industrieländer, welche sich Einfluss im Lande sichern wollten.

Unter der Regierung von Mohammed Daud entstand in Afghanistan erstmals so etwas wie ein modernes Staatswesen. Gleichzeitig bildete sich eine neue Bildungselite und Oberschicht heraus, die sich allerdings zunehmend von der ländlichen Bevölkerung entfernte und diese somit von der Partizipation in den Institutionen des modernen Staates ausschloss. Die intellektuelle Elite schloss sich in der Folge radikalen Organisationen an, deren Spektrum von den Kommunisten bis zu den islamischen Fundamentalisten reichte.

Die zehnjährige Regierungszeit Dauds endete 1963 in Folge des wiederaufgeflammten Paschtunistan-Konfliktes. Im August 1961 hatte Pakistan die Grenzen zu Afghanistan geschlossen, so dass das Land für den Transit und den Handel völlig von der Sowjetunion abhängig war. Um die Situation zu entspannen, trat Daud auf Wunsch Sahir Schahs im März 1963 zurück, woraufhin Pakistan die Grenze im Mai wieder öffnete. Die Paschtunistan-Frage war damit jedoch keineswegs gelöst.

Nun erst folgte die eigentliche Regierungszeit Sahir Schahs. Er erließ 1964 eine neue Verfassung, die zu einer liberaleren Regierungsform führen sollte. Das „House of the People“ sollte 216 gewählte Mitglieder haben, das „House of the Elders“ 84 Mitglieder, ein Drittel vom Volk gewählt, ein Drittel vom König ernannt und ein letztes Drittel indirekt durch die Provinz-Versammlungen gewählt. Die ersten Wahlen für das Parlament wurden 1965 abgehalten.

Die Gründung von politischen Parteien war zwar in der Verfassung vorgesehen, ein Gesetz dazu sollte jedoch erst nach den Wahlen vom Parlament verabschiedet werden. Mehrere linke, marxistische Gruppen begannen jedoch vor der Ausarbeitung des Parteiengesetzes sich zu organisieren. Das von der Interims-Regierung verabschiedete Gesetz zur Pressefreiheit gab ihnen die Möglichkeit, mittels intensiver Kampagnen um Anhänger zu werben. Viele Zeitungen wurden gegründet, welche die Parteienvielfalt widerspiegelten. Insgesamt gelang es den marxistisch-kommunistischen Gruppen, sich eine einflussreiche, starke Position aufzubauen, was nicht zuletzt auch auf Unterstützung russischer Berater zurückzuführen war.

Das breite Parteienspektrum, das von den extremen Linken bis zu islamischen Fundamentalisten reichte, führte zu einer zunehmenden Polarisierung unter den verschiedenen Gruppen. Es kam regelmäßig zu Demonstrationen mit teilweise tödlichen Auseinandersetzungen. Die Berufung von fünf aufeinanderfolgenden Premierministern zwischen den Jahren von 1965 bis 1972 reflektierte die chaotische, fast anarchische Situation im Lande.

König Sahir Schah weigerte sich, das Parteiengesetz und verschiedene Gesetze zur Dezentralisierung zu verabschieden und blockierte damit die Institutionalisierung des politischen Prozesses, wie er in der Verfassung festgeschrieben war. Auch ein unabhängiger Oberster Gerichtshof wurde nicht eingesetzt. Als Folge verlor Sahir Schah zunehmend an Popularität.